Psychopharmaka im Rettungsdienst

Übersicht
Allgemeines
Neuroleptika
Benzodiazepine
Im RD eingesetzte Psychopharmaka
Akute depressive Störung und Suizidalität
Erregungszustände
Delir
Stupor
Entzugssyndrome
Zusammenfassung
Literatur
Impressum für diesen Bericht

Allgemeines
Als Psychopharmaka werden Medikamente bezeichnet, die therapeutisch auf die Psyche wirken. Manche Psychopharmaka zeigen ihren therapeutischen Effekt nur dann, wenn tatächlich auch eine psychische Störung vorliegt, z. B. Antidpressiva. Im wesentlichen kann zwischen folgenden Wirkstoffgruppen unterschieden werden:
Einteilung der Psychopharmaka:
Wirkstoffgruppe Wirkung
Antidepressiva antidepressiv
Phasenprophylaktika vorbeugend gegen manische oder depressive Phasen
Neuroleptika antipsychotisch
Tranquilizier (Sedativa) beruhigend, angstlösend
Hypnotika schlaffördernd
Neben den erwähnten Wirkstoffgruppen werden jedoch auch zahlreiche andere Arzneimittel zur Behandlung psychischer Erkrankungen oder Symptome eingesetzt. In der präklinischen Notfallmedizin finden ausschließlich Neuroleptika und Tranquilizer Verwendung.

 
Neuroleptika
Neuroleptika - die modernere Bezeichnung lautet "Antipsychotika" - werden außer zur Therapie verschiedenartiger psychiatrischer Krankheitsbilder auch in der Behandlung einiger neurologischer Erkrankungen, zur unspezifischen Sedierung, als Analgetika, Antiemetika, oder in der Anästhesiologie eingesetzt. Innerhalb der Psychiatrie finden Neuroleptika Anwendung zur Therapie folgender Erkrankungen:
  • Schizophrenie und verwandte Erkrankungen (z. B. schizotypische Störungen, schizoaffektive Störungen) 
  • Manie 
  • Depression mit psychotischer Symptomatik 
  • Organische Psychosyndrome mit Unruhe, Wahn, Angst- oder Schlafstörungen 
  • Delirien 
  • Verhaltensstörungen im Kindes- und Jugendalter 
  • Zwangsstörungen 
Die typische Wirkung der Neuroleptika ist die "antipsychotische", d. h. die Beeinflussung von den für Psychosen charakteristischen Symptomen wie Wahnideen, Halluzinationen, Denk- und Verhaltensstörungen, Ich-Störungen und affektiver Spannung. Unmittelbar nach der Verabreichung eines Neuroleptikums steht jedoch vor allem dessen sedierende Wirkung im Vordergrund, erst nach längerer Anwendung zeigt sich der eigentliche antipsychotische Effekt.

Hinsichtlich des Wirkprofils kann im wesentlichen zwischen hochpotenten und niederpotenten Neuroleptika unterschieden werden. Während bei den hochpotenten die antipsychotische Wirkung im Vordergrund steht, zeichnen sich niederpotenten Neuroleptika vor allem durch ihre sedierende Komponente aus. Haloperidol (Haldol®) ist ein klassischer und auch in der Notfallmedizin eingesetzter Vertreter der hochpotenten Neuroleptika. Unter den zahlreichen niederpotenten Präparaten wird in der Notfallmedizin häufig Chlorprothixen (Truxal®) eingesetzt.

Alle Neuroleptika binden an Dopamin-Rezeptoren im Zentralnervensystem, was die antipsychotische Wirkung erklärt. Die Begleitwirkungen wie Sedierung oder auch einige der Nebenwirkungen werden durch die gleichzeitige Beeinflussung anderer Rezeptorsysteme verursacht. 

Einige der vor allem bei hochpotenten Neuroleptika häufig auftretenden extrapyramidalmotorischen Nebenwirkungen können sich bereits bei der ersten Anwendung deutlich zeigen und haben somit auch in der Notfallmedizin praktische Bedeutung. Man beobachtet dann unwillkürliche Bewegungen oder Krämpfe der Gesichts-, Zungen- oder Schluckmuskulatur (sog. "Früh-Dyskinesien"). Zur Behandlung dieser Nebenwirkungen eignet sich das gelegentlich auch in Rettungsmitteln mitgeführte Biperidin (Akineton®).

Bei den niederpotenten Neuroleptika können vielfältige Nebenwirkungen an unterschiedlichen Organsystemen auftreten. Vor allem die auf das kardiovaskuläre System (Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, Blutdrucksenkung, Veränderungen des Blutbildes) können bei Risikopatienten mitunter ihren Einsatz verbieten.

Eine seltene aber absolut lebensgefährliche Nebenwirkung durch Neuroleptika ist das maligne neuroleptische Syndrom (MNS). Es ist charakterisiert durch Fieber, Skelettmuskelstarre, Bewußtseinsstörungen bis hin zum Koma sowie verschiedenartige vegetative Störungen (Schwitzen, Tachykardie, Kreislaufstörungen, beschleunigte Atmung). Unbehandelt hat das MNS eine schlechte Prognose. Die präklinischen Maßnahmen richten sich nach der Symptomatik und müssen darauf abzielen, Kreislauf und Atmung zu stabilisieren. Die zur Behandlung notwendigen Medikamente (Dantrolen, Bromocriptin) sind vor Ort meist nicht verfügbar.


 
Benzodiazepine
Benzodiazepine gelten als klassische Notfallmedikamente und werden innerhalb der Psychopharmaka zu den Tranquilizern und den Hypnotika gezählt. Ein typischer Vertreter ist das Diazepam (Valium®, Gewacalm®, Stesolid®), neben dieser Substanz sind jedoch an die 20 verschiedene Benzodiazepine auf dem Markt. In der Notfallmedizin finden außerdem Midazolam (Dormicum®) oder Clonazepam (Rivotril®) Anwendung. Bei Überdosierung oder Intoxikationen kann die Wirkung der Benzodiazepine mit Flumazenil (Anexate®) aufgehoben werden.

Alle Benzodiazepine binden im Zentralnervensystem an die Gamma-Amino-Buttersäure-Rezeptoren (GABA-Rezeptoren) und zeichnen sich durch ein charakteristisches Wirkspektrum aus, das sich aus der dämpfenden Wirkung auf das ZNS ergibt.

In der präklinischen Notfallmedizin werden Benzodiazepine dann eingesetzt, wenn ...
  • der Patient sediert werden soll, 
  • der Patient narkotisiert werden soll (hohe Dosierungen notwendig), 
  • eine angstlösende Wirkung erreicht werden soll, 

  • ein zerebraler Krampfanfall unterbrochen werden soll.
Als Standardsubstanz wird Diazepam (Valium®, Gewacalm®, Stesolid®) in der Notfallmedizin gerne eingesetzt. Diese Substanz jedoch weist eine besonders lange Halbwertszeit von 24 - 80 Stunden auf. Das kurz wirksame Midazolam (Dormicum®) mit einer Halbwertszeit von 1 - 3 Stunden ist als Sedativum genauso gut geeignet und kann darüberhinaus zur Kurznarkose verwendet werden. Clonazepam (Rivotril®) wird zur Durchbrechung von zerebralen Anfällen verwendet, zeichnet sich gegenüber Diazepam jedoch durch keinerlei Vorteile aus.
Die Nebenwirkungen der Benzodiazepine haben in der Notfallmedizin untergeordnete Bedeutung. Bei hoher Dosierung oder rascher intravenöser Verabreichung kann es zu Atemdepression und -stillstand oder Blutdruckabfall kommen. Insbesondere bei alten Patienten werden gelegentlich paradoxe Reaktionen mit Erregungszuständen beobachtet. Alle Benzodiazepine verlängern die Reaktionszeit und führen bei länger dauernder Anwendung zu psychischer und körperlicher Abhängigkeit.

 
Welche Psychopharmaka werden im Rettungsdienst eingesetzt?
Im Rettungsdienst bzw. in der präklinischen Notfallmedizin können nur jene Substanzen eingesetzt werden deren Wirkungseintritt rasch erfolgt. Diazepam (Valium®, Gewacalm®, Stesolid®) gilt als Standardsubstanz innerhalb der Sedativa und wird deshalb als klassisches Notfallmedikament zur unspezifischen Sedierung in psychiatrischen Notsituationen bezeichnet. Es kann oral, rektal, intravenös und intramuskulär verabreicht werden. Das stärker aber weniger lang wirksame Midazolam (Dormicum®) eignet sich im Rettungsdienst mindestens ebenso gut, es unterscheidet sich hinsichtlich seiner Wirkqualität kaum von Diazepam. Bei Notfällen erfolgt die Anwendung nach Möglichkeit intravenös. Eine intramuskuläre Verabreichung von Benzodiazepinen ist möglich, jedoch ist mit einem verzögerten Wirkungseintritt von etwa 30 Minuten zu rechnen.
Haloperidol (Haldol®) als bekanntester Vertreter der typischen hochpotenten Neuroleptika ist das am häufigsten im Rettungsdienst eingesetze Antipsychotikum. Andere hochpotente Neuroleptika zeigen eine vergleichbare Wirkung mit ähnlichem Nebenwirkungsprofil, sind jedoch weniger bekannt und - nachdem es sich bei den Notärzten ja in den seltensten Fällen um Ärzte mit umfangreicher Psychiatrie-Erfahrung handelt - bereiten deshalb am ehesten Probleme bei der Indikationsstellung und der Dosierung. Hochpotente Neuroleptika können in Notsituationen langsam intravenös gegeben werden, was einer intramuskulären Verabreichung mit verzögertem Wirkungseintritt und unsicherer Resorption jedenfalls vorzuziehen ist.
Niederpotente Neuroleptika entfalten bei intravenöser oder intramuskulärer Verabreichung zwar ebenfalls rasch ihre sedierende Wirkung, werden im Rettungsdienst allerdings selten eingesetzt, da sie gegenüber Benzodiazepinen keinerlei Vorteile aufweisen und hinsichtlich ihrer Nebenwirkungen und Kontraindikationen in der präklinischen Notfallmedizin zur Sedierung als weniger geeignet erscheinen. Alle anderen Psychopharmaka (z. B. Antidepressiva, Phasenprophylaktika, Hypnotika) haben im Rettungsdienst keine Bedeutung.
Auch bei psychiatrischen Patienten ist in jedem Fall an die rechtliche Konsequenz einer Medikamentenverabreichung ohne die Einwilligung des Patienten zu denken. Nach Möglichkeit sollte durch ein einfühlsames Gespräch die Zustimmung des Patienten zur Anwendung eines Medikaments erreicht werden.

 
Akute depressive Störung und Suizidalität
Medikamente mit unmittelbar einsetzender stimmungsaufhellender Wirkung gibt es nicht! Im Rettungsdienst ist es auf medikamentösem Wege also unmöglich, eine antidepressive Wirkung zu erreichen. Der geringgradige antidepressive Effekt mancher niederpotenter Neuroleptika tritt - wenn überhaupt - mit einem zeitlichen Intervall von einigen Wochen auf, ebenso der sämtlicher Antidepressiva.
Bei Patienten mit deutlich depressiver Stimmung oder bei Vorliegen einer akuten Suizidalität ist im Rettungsdienst neben der Zuwendung durch Gespräche, Aufbau einer Vertrauensbasis und Beharren auf einer stationären psychiatrischen Aufnahme also nur eine unspezifische Sedierung mit Benzodiazepinen möglich. Eine solche Medikation bringt eine Angstlösung, eine Verminderung der inneren Spannung und häufig auch eine Distanzierung gegenüber der Selbsttötungsgedanken mit sich. Liegt eine deutlich gedrückte Stimmung oder Suizidalität im Rahmen einer psychotischen Störung (z. B. Schizophrenie, paranoide Depression) vor, ist der Einsatz hochpotenter Neuroleptika ggf. auch bereits präklinisch gerechtfertigt.

 
Erregungszustände
Erregungszustände können Ausdruck einer schweren psychischen Störung (z. B. Manie, Schizophrenie), Folge eines Drogenkonsums oder Symptom einer hirnorganischen Störung sein, aber auch Zeichen einer gestörten, d. h. "neurotischen" Reaktion auf belastende Momente.
Zur Behandlung von Erregungs- oder auch akuten Angstzuständen eignen sich im Rettungsdienst am besten Benzodiazepine. Ausgenommen davon sind jene Notfälle, die durch einen Drogenkonsum einschließlich Alkohol ausgelöst werden. In diesen Fällen wird Haloperidol empfohlen. Lediglich bei Panikzuständen nach Einnahme halluzinogener Drogen (z. B. LSD) sind Benzodiazepine den hochpotenten Neuroleptika überlegen. Erregungszustände im Rahmen psychotischer Erkrankungen lassen den Einsatz von Haloperidol sinnvoll erscheinen.

 
 
Delir
Ein Delir ist charakterisiert durch Desorientiertheit, Verwirrtheit, Unruhe, Halluzinationen und gelegentlich Erregung. Die zugrundeliegenden Ursachen sind vielfältig, am häufigsten tritt ein Delir im Rahmen eines Alkohol- oder Medikamentenentzugs auf, aber auch viele zentral-wirksame Medikamente und schwere Allgemeinerkrankungen können zum Vollbild eines Delirs führen. In jedem Fall handelt es sich um einen ernsten, häufig sogar lebensgefährlichen Zustand.
Da im Rettungsdienst die Diagnose eines Delirs bzw. seines Vorstadiums (Prädelir) nicht immer leicht gestellt werden kann, sollte eine präklinische Medikation mit Zurückhaltung erfolgen. Bei sicherer Diagnose sind Benzodiazepine zu verabreichen. Das klassische Medikament in der Delir-Therapie ist Clomethiazol (Distraneurin®). Seine Verwendung im Rettungsdienst ist jedoch insofern kontraindiziert, als für Clomethiazol - anders als bei den Benzodiazepinen - kein spezifisches Gegenmittel existiert, das bei einer plötzlichen Veränderung der Symptomatik verabreicht werden könnte. Neuroleptika senken die Krampfschwelle des ZNS und bergen beim Delir somit die Gefahr der Provokation eines Status epilepticus. Der Einsatz von Neuroleptika in der Behandlung eines Delirs erfordert aus diesen Gründen viel Erfahrung. Die häufig beim Delir vorliegende Flüssigkeitsmangel kann zu schweren Kreislaufstörungen führen und wird mit NaCl-Lösung oder Ringer-Lactat behandelt.

 
Stupor
Unter einem Stupor versteht man einen Zustand psychomotorischer Erstarrung. Der Patient bewegt sich nicht, spricht gar nicht oder nur sehr wenig und wirkt vollständig in sich gekehrt und zurückgezogen. Auf Ansprechen erfolgt in der Regel keine Reaktion, wohl aber meistens auf Schmerzreize. Die Augen sind für gewöhnlich geöffnet. Einem Stupor können unterschiedlichste und zum Teil lebensbedrohliche Ursachen zugrundeliegen (z. B. schwere depressive Störung, katatone Schizophrenie, Hirnduck, Vergiftungen).
Die medikamentöse Therapie stuporöser Zustände sollte im Rettungsdienst mit Zurückhaltung erfolgen, da Psychopharmaka die Diagnostik der zugrundeliegenden Störung im Krankenhaus erschweren können. Bei gesicherter Diagnose einer auslösenden psychotischen Erkrankung können hochpotente Neuroleptika verabreicht werden.

 
Entzugssyndrome
Die unterschiedliche Schwere der Symptomatik bei Drogenentzug und die Vielfalt potentiell suchterzeugender Substanzen lässt es kaum zu, allgemeine Empfehlungen bezüglich der präklinischen medikamentösen Therapie zu geben. Bei einfachen Entzugssymptomen sind meist keine notfallmedizinischen Maßnahmen vor Ort notwendig. Manchmal kann eine leichte Sedierung mit einem Benzodiazepin sinnvoll sein. Auf die Behandlung deliranter Störungen wurde oben bereits eingegangen.

 
Zusammenfassung
Zumindest ein Benzodiazepin und ein hochpotentes Neuroleptikum sollte an jedem notarztbesetzten Rettungsmittel mitgeführt werden. In der Notfallmedizin bewährt haben sich die Benzodiazepine Diazepam und Midazolam sowie das Neuroleptikum Haloperidol. Die erwähnten Substanzen können als Standardpräparate bezeichnet werden, deren Dosierung und Indikation auch dem weniger psychiatrieerfahrenem Notarzt geläufig sein muß. Bei strenger Indikationsstellung ist die Wahrscheinlichkeit ernster Nebenwirkungen bei einmaliger Anwendung als sehr gering zu bezeichnen. Psychopharmaka dürfen auch im Rettungsdienst nicht dazu mißbraucht werden, psychiatrische Patienten leichter lenkbar zu machen und sind nicht geeignet, die menschliche Zuwendung zum Patienten zu ersetzen.

 
Literatur
1. Citrome, L.; Volavak, J.: Violent patients in the emergency setting. Psychiatric Clinics of North America; 22 (4): 789 - 801. 1999.
2. Dorevitch, A.; Katz, N.; Zemishlany, Z.; Aizenberg, D.; Weizmann A.: Intramuscular flunitrazepam versus intramuscular haloperidol in the emergency treatment of aggressive psychotic behavior. American Journal of Psychiatry; 156 (1): 142 - 144. 1999.
3. Laux, G.: Aktueller Stand der Behandlung mit Benzodiazepinen. Der Nervenarzt; 66 (5): 311 - 322. 1995.
4. Laux, G.; Dietmaier, O.; König, W. : Pharmakopsychiatrie. 2., überarbeitete Auflage; Gustav Fischer; Stuttgart, Jena, Lübeck, Ulm. 1997.
5. Lüllmann, H.; Mohr, K.: Pharmakologie und Toxikologie. Arzneimittelwirkungen verstehen - Medikamente gezielt einsetzen. Thieme; Stuttgart, New York. 1999.

 
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Herzlichen Dank für den sehr ausführlichen Artikel an Robert Strauß. Robert Strauß studiert seit 1994 Medizin an der Uni in Innsbruck und ist ehrenamtlicher Notfallsanitäter (das sind in Österreich die Sanitäter mit der höchsten Ausbildung, entspricht ungefähr dem deutschen RA) beim ÖRK in Kufstein. Er ist Autor des "Lehrbuch für den Rettungsdienst".
Name des Autors Robert Strauß
Graphiken Robert Strauß
Email des Autors robert.strauss@sanitaeter.at
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Bearbeitung & Layout Björn Heumann
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